Der Mensch hasst im Grunde Veränderungen. Immer gleiche Abläufe geben uns Halt und Sicherheit. Ganze Industriezweige sind um das Thema Sicherheit entstanden. Wir geben die Verantwortung für unser Leben in fremde Hände, weil es so bequem und einfach ist. Wir merken dabei gar nicht, in welche Abhängigkeit wir uns damit begeben und wieviel Autonomie wir dafür aufgeben.
Wir spüren durchaus, dass dieses Leben irgendwann nur noch wenig mit uns selbst zu tun hat, doch die Erkenntnis würde bedeuten, dass wir etwas ändern müssen. Die Lösung dieses Konfliktes sehen wir in kognitiver Dissonanz.
Das tägliche Leben gleicht mittlerweile einem Hamsterrad. Es ist nie genug. Einschlägige Plattformen suggerieren uns, dass wir, um wirklich zufrieden und glücklich sein zu können, bestimmte materielle Dinge erwerben oder eine ganz bestimmte Haltung zu bestimmten Themen haben müssen. Wenn auch du XY besitzt, dann gehörst du dazu. Und wir wollen dazu gehören.
Doch dieses „auch-dazugehören“ wird schwieriger. Erfolg-„reich“ wird man heutzutage in vielen Fällen nicht mehr durch ehrliche Arbeit, sondern durch täuschen, spekulieren und konkurrieren. Diese Handlungsweisen sind mittlerweile gesellschaftlich so akzeptiert, dass man kaum noch einen Aufschrei wahrnimmt, wenn in Politik und Gesellschaft Korruption offen zutage tritt. Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, der u.a. das Buch „Das falsche Leben“ geschrieben hat, nennt diese narzisstische Gesellschaftsform auch normophatisch.
Da die Gesellschaft das einzelne Individuum ausschließlich an seiner wirtschaftlichen Verwendbarkeit misst, ist es kein großes Wunder, dass wir einen massiven geistigen und sozialen Verfall erleben.
Markus Keimel
Der Mensch ist lange leidensfähig. Drei bis 10 Jahre dauert es, bis Menschen aus einer unglücklichen Partnerschaft ausbrechen oder zumindest sich bemühen, die Beziehung durch Veränderung zu retten. Vielmehr wird zunächst der Versuch gestartet, sich immer mehr anzupassen, auch wenn man längst spürt, dies ist das falsche Leben.
Was für unglückliche Partnerschaften gilt, sehen wir jetzt auch in Zeiten von Corona. Der gesellschaftliche Umgang mit der Corona-Pandemie legt in unserer Gesellschaft tiefgreifende Probleme offen, vor denen wir lange die Augen geschlossen haben. Doch viele Menschen wollen diese Probleme immer noch nicht wahrhaben und setzen auf ein „weiter so“. Man hofft auf die Erlösung, in dem man sich nur gut genug anpasst. Täglich aufs Neue heißt das Mantra: Bald wird es vorbeisein, bald haben wir unser altes Leben zurück…wenn wir nur lange genug auf Kontakte verzichten…überall Masken tragen…uns impfen lassen…Und treffen wir auf einen Menschen, der unsere Glaubenssätze nicht befolgt, dann geben wir ihm die Schuld, dass wir die Erlösung noch nicht empfangen haben.
In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.
Kurt Tucholsky
Wer einmal aus einem falschen Leben ausgestiegen ist, weiß, dass sich im Grunde alles ändert. Sämtliche Beziehungen und die Art zu leben, kommen auf den Prüfstand. Das kann sehr schmerzlich sein. (Vermeintliche) Sicherheiten brechen weg, die Realität holt uns ein. Doch der Realität ins Auge zu blicken, macht uns ehrlicher. Und nur Ehrlichkeit kann am Ende eine gute Basis für menschliche Beziehungen sein.
Im falschen Leben auszuharren, macht uns auf Dauer krank. Krisen sind immer ein Ausdruck dafür, dass ein „weiter-so“ nicht funktionieren wird. Es wird vermutlich noch eine Weile dauern, bis auch der Letzte verstanden hat, dass es nie wieder so sein wird wie vor der Corona-Krise. Wer das noch glaubt, macht sich etwas vor. Es ging noch nie nur um ein Coronavirus. Das politische und gesellschaftliche System ist aus mehreren Gründen am Ende. Wir brauchen in unserer Gesellschaft endlich den Diskurs, wohin zukünftig die Reise gehen soll. Es gibt verschiedene Optionen. Wir sollten allerdings aufpassen, dass uns der Weg nicht von einem falschen Leben ins nächste falsche Leben führt.
Den meisten Leuten sollte man in ihr Wappen schreiben: Wann eigentlich, wenn nicht jetzt?
Kurt Tucholsky
Anmerkung: Die Bilder stammen von einem Ausflug in das beschauliche Weimar, einst Mittelpunkt deutscher Kulturgeschichte.
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